»Ich würd sterben!« Warum ich Vorträge halte
Weil ich regelmäßig vor Publikum spreche, sagt manchmal jemand zu mir: »Dass du das kannst! Ich würd sterben!« Die, die das sagen, sind fast immer Frauen. Doch »Ich würd sterben!« ist für mich kein Argument.
Als ich angefangen habe, Vorträge zu halten, konnte ich das nämlich auch nicht. Aber mit Mitte zwanzig, nach einem besonders peinlichen Moment vor einer Gruppe im Studium, habe ich beschlossen, dass ich in der Lage sein will, vor großem Publikum zu sprechen. Ich wollte nicht eine der Frauen sein, die nach Luft schnappen und rufen: »Ich würd sterben!«, wenn es darum geht, auf die Bühne zu gehen. Und nachdem ich das beschlossen hatte, habe ich Gelegenheiten gesucht zu üben.
Begonnen habe ich mit Pecha-Kucha-Abenden, bei denen die Vorträge nur 7 Minuten und 40 Sekunden lang sind: 20 Sekunden pro Folie. Dann habe ich Studierenden an verschiedenen Hochschulen von meinem Werdegang als selbstständiger Designerin erzählt. Schließlich bin ich auf Design-Konferenzen vor mehreren Hundert Leuten aufgetreten – bei der TYPO Berlin und beim Berlin Letters Festival.
Doch nicht nur die Vorträge sind eine Übung für mich. Auch wenn ich zu Veranstaltungen gehe, bei denen es nach einer Präsentation eine Frage- und Antwortrunde gibt, überwinde ich mich jedes Mal und stelle eine Frage. Meistens mit Herzrasen.

Der Pecha-Kucha-Vortrag in der Kulturkirche in Altona war 2013 einer meiner ersten Vorträge. Und nebenbei vielleicht das einzige Mal in meinem Erwachsenenleben, dass ich vorm Altar gestanden habe.
Raum einnehmen
Kommenden Herbst reise ich in die USA, weil ich als Sprecherin zu einer großen Konferenz eingeladen wurde. Ich bin jetzt schon nervös. Um mich zu beruhigen, habe ich gezählt, wie viele Vorträge ich in den letzten zehn Jahren gehalten habe: es waren über 30.
Ich sterbe also nicht, wenn ich einen Vortrag halte, denn ich habe es geübt. Aber davon, eine begnadete Sprecherin zu sein, bin ich noch weit entfernt. Auf der Bühne überspiele ich meine Nervosität, indem ich so obercool tue, dass ich fast wie sediert wirke. Und wo hin mit meinen Händen? Das weiß ich bis heute nicht.

Doch ich kriege es irgendwie hin und das ist das Wichtigste. Denn meine Vorträge halte ich nicht nur, weil es Spaß macht, weil ich meine Ideen in die Welt hinaustragen will oder weil ich die geborene Rampensau bin, sondern aus Prinzip: Fast egal was ich sage, es ist immer besser, wenn ich spreche und meine Perspektive einbringe, als wenn wieder ein Mann die Welt erklärt.
Ich halte Vorträge, damit mehr Frauen auf der Bühne und in der Öffentlichkeit stehen. Und ich stelle Fragen, um zu verhindern, dass die Diskussion von Männern dominiert wird.

Nach dem Motto »practice what you preach« wollte ich meinen Vortrag bei der TYPO Berlin 2017 nicht mit einer digitalen Präsentation begleiten, sondern mit analogen Slides: Lettering auf Papier im Großformat.
Jedes Mal wenn meine beiden Helfer*innen auf mein Zeichen hin ein neues Plakat hochhielten, ging eine Woge durch das Publikum, weil alle aufstanden, um es besser zu sehen.
Appell zum Einrennen offener Türen
Nach meinem Vortrag auf der TYPO vor ein paar Jahren habe ich zu einer aus dem Orga-Team gesagt: »Der Vortrag hat so Spaß gemacht! Und ich finde es so wichtig, dazu beizutragen, dass es bei Konferenzen mehr Sprecherinnen gibt!«
Die Frau hat geantwortet: »Ich wünschte, es gäbe mehr Frauen, die sprechen wollen.«
Und dann hat sie erklärt: »Aber in Wirklichkeit ist es so: Du kontaktierst zehn Frauen, die du gerne auf der Bühne sehen würdest. Neun davon sagen sofort: ›Nie im Leben! Ich würd sterben!‹ Die zehnte Frau lässt sich vielleicht überreden – wenn du sie wochenlang bearbeitest. Und dazu haben wir einfach keine Zeit, weil wir eine Riesenkonferenz organisieren.«
»Ich wünschte, es gäbe mehr Frauen, die sprechen wollen.«
Vor diesem Hintergrund hier mein direkter Appell: Solltest du auch nur die geringste Ambition haben, Vorträge zu halten und öffentlich in Erscheinung zu treten, sprich die Organisator*innen einer Lieblingsveranstaltung an, sag ihnen, worüber du sprechen möchtest und frag sie, was du tun musst, um auf die Bühne zu kommen.
Wahrscheinlich rennst du damit offene Türen ein, denn die Leute, die diese Veranstaltungen organisieren, freuen sich, wenn Frauen von sich aus sprechen wollen. Das weiß ich genau, weil ich 2019 selbst ein Festival mit 25 Sprecher*innen organisiert und dabei erlebt habe, wie schwierig es ist, das Line-Up ausgewogen zu gestalten und weibliche Speaker zu finden.
Beim Summer’s Tale Festival 2016 habe ich während meines Vortrags sogar gesungen. So dicht dran war ich noch nie an meinem heimlichen Traum, als Sängerin entdeckt zu werden!

Doch.
Wenn du jetzt denkst »Vorträge halten – nix für mich!« dann denk vielleicht noch mal darüber nach.
Ich kenne wenige Frauen, denen es egal ist, dass weibliche und queere Perspektiven in vielen Zusammenhängen immer noch unterrepräsentiert sind. Die meisten Frauen, die ich kenne, finden das frustrierend.
Mit etwas unzufrieden zu sein ist das Eine. Aber jahrhundertealte Strukturen zu verändern, macht viel Arbeit und es erfordert die Beteiligung von vielen. Wenn du also als Frau oder queere Person auf die Bühne gehst und in der Öffentlichkeit Raum einnimmst, tust du nicht nur dir selbst und den Organisator*innen der Veranstaltung einen Gefallen, sondern auch allen anderen, denen du mit deinem Auftritt ein Vorbild bist.
»Lettering ist gut und schön, aber das hier, das ist wichtig.«
Wenn ich als junge Frau jemanden wie mich auf einer Bühne gesehen hätte, es hätte mich ermutigt. Es ermutigt mich immer noch, andere queere Personen auf der Bühne zu sehen.
Und apropos Ermutigung: Nach meinem Vortrag auf der TYPO 2017 kamen zehn oder zwölf Frauen einzeln auf mich zu, die an ganz unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere waren.
Eine 21-jährige im 2. Semester Visuelle Kommunikation, die mir gesagt hat, sie hatte bisher gar keine Idee, wohin sie mit ihrem Studium wolle, nun aber schon. Zwei Frauen Mitte zwanzig, die in ihrem ersten Agenturjob festhängen und von ihrem cholerischen Chef frustriert sind. Und eine Frau um die fünfzig, die seit zwanzig Jahren ihre eigene Agentur führt.
Und sie alle haben gesagt: »Danke, das war echt inspirierend und ermutigend!«
Da dachte ich: »Wow! Das ist echt cool. Das ist wichtig. Lettering ist schön und gut, aber das hier, das ist wichtig.«
Liebe Chris,
gut, dass du öffentlich redest. Ich höre dir nämlich sehr gerne zu.
Die Frage, wohin mit den Händen, kenne ich gut. Ich finde die drei Tipps von Andrea Joost ganz hilfreich:
https://www.andreajoost.de/2013/11/meine-haende-und-ich/
Überhaupt ist ihr Blog eine gute Quelle für Vortragswissen 🙂
Liebe Grüße,
Janne
Liebe Janne,
danke für das Lob und die Tipps, die sind genau richtig, ich werd sie bei nächster Gelegenheit ausprobieren! 🙂